Die Unternehmenssteuerung und die Planung von Unternehmenszielen zählen zu den anspruchsvollsten Aufgaben des höheren Managements, aber wie Charles Darwin schon sagte: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern.“ In einer Ära multipler Krisen ist das Management 2023 mehr denn je gefordert, mehr Aufmerksamkeit auf die Steuerung und Planung von Unternehmenszielen zu legen, um echte Veränderungsimpulse für alle Mitarbeitenden zu erzeugen.
Das – fast entschuldigende – „schwierige Marktumfeld“ der letzten Zeit muss auch in der letzten Vorstandsetage nach Pandemie, Krieg in Europa, Energiekrise, Inflation und geopolitischen Verwerfungen als „das neue Normal“ angesehen werden. Daher ist es 2023 höchste Zeit, dem Prozess der Unternehmensziele eine hohe Management Attention zu sichern. Gemeint ist damit jedoch nicht die tägliche Kontrolle von Finanzkennzahlen, sondern eine ganzheitlich neue Betrachtung. Als Erstes verdienen die „gesteckten ambitionierten Ziele“ einen detaillierteren Blick, da der ewige Kreis in vielen Unternehmen seit der industriellen Revolution dem gleichen Schema folgt:
September – Beginn der Zielplanung, i. d. R. finanzkennzahlen- und stückzahlengetrieben.
Januar – Jahresauftakt, Verkündung der Ziele und der monodirektionalen Botschaft aus dem Management, wie wichtig die Erreichung auch in diesem Jahr ist.
Mai – die ersten unerwarteten Entwicklungen schlagen sich in den Prognosen nieder, eine unterjährige Zielanpassung ist unumgänglich.
November – der Jahresendspurt beginnt; während in Vertriebsbereichen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um jedes definierte Ziel irgendwie zu erreichen, sind in den Stabsbereichen massiv Kapazitäten mit dem Suchen und Verschriftlichen von außergewöhnlichen Umständen beschäftigt, die auf die mangelnde Zielerreichung mildernd angerechnet werden können.
Januar – im Saldo wurden die Stückzahlenziele weitestgehend erreicht, der konkrete Beitrag zur Unternehmensstrategie wird in Vorbereitung der Jahrespressekonferenz in freundliche Worte gekleidet.
In der Vergangenheit waren stückzahlengetriebene Zielplanungssysteme oft angemessen. Anhand der Zahl der Mitarbeitenden im produzierenden Gewerbe konnten der Unternehmens-Output und daraus abgeleitet die wirtschaftliche Entwicklung gut und langfristig antizipiert werden. In der heutigen Zeit führen sie aber zu Problemen, wie die folgenden Beispiele aus der Finanzindustrie zeigen:
Zieldiversifizierung – Was und wie viele unterschiedliche Themen werden dem einzelnen Mitarbeiter in die Zielkarte geschrieben? Provisionserträge aus Wertpapiergeschäft und Versicherungsgeschäft, gleichzeitig neue Geldanlagen und Kredite für die eigenen Bücher und ergänzt um vermeintliche Qualitätsindikatoren, wie eine bestimmte Anzahl an Finanzanalysen oder Kundengesprächen, führen in ihrer Fülle zu einer mangelnden Fokussierung der Mitarbeitenden, da eine Gewichtung der Ziele untereinander oft nicht erfolgt.
Scheinerfüllung – sind beispielsweise bestimmte Stückzahlen an Finanzanalysen und Kundengesprächen vorgegeben, werden Mitarbeitende alle Wege nutzen, um für die Abrechnung diese Zahlen zu erreichen. Servicegespräche werden so schnell als umfassende Beratungstermine deklariert, gut für die Stückzahl, aber ohne Mehrwert für das Unternehmen.
Scheinmessbarkeit – wo im Vertrieb die zahlenmäßige Zielvereinbarung noch teilweise nachvollziehbar ist, führt dieser Fokus in den Stabs- und Marktfolgebereichen zu teilweise absurden Blüten. Nur um eine Abrechenbarkeit herzustellen, wird beispielsweise dem Prozessmanager eine Stückzahl zu überarbeitender Prozesse in die Zielkarte geschrieben, ebenfalls unabhängig vom wirklichen Mehrwert für das Unternehmen.
Überholte Ziele – bis zum ersten Quartal letzten Jahres waren beispielsweise Baufinanzierungen der Wachstumstreiber im Kreditgeschäft und entsprechend mit Zielen hinterlegt. Der komplette Markteinbruch der letzten Monate machte dieses Ziel schnell obsolet.
Zusammenfassend sind derartige Zielsysteme in der heutigen Zeit zu langfristig und zu starr, um auf Veränderungen zu reagieren, zu überladen, um dem Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin eine Fokussierung auf die wirklich wichtigen Themen zu ermöglichen und zuletzt nicht motivierend da sich dem einzelnen Mitarbeiter der wirkliche Beitrag zum Unternehmenserfolg nicht erschließt.
OKR als Brücke in die neue Zeit?
Diese Erkenntnis, in Verbindung mit einigen prominenten Beispielen aus der Technologiebranche, verhalf in den letzten Jahren der Methode OKR – „Objectives and Key Results“ – zu großer Popularität.
Das ursprünglich aus den USA stammende OKR-System findet in vielen Unternehmen innerhalb und außerhalb Deutschlands Anwendung. Bekannte Beispiele hierfür sind unter anderem Google, Twitter oder BMW.
Teamarbeit soll effizienter werden, Mitarbeitende zufriedener und es soll ein höheres Maß an Eigenverantwortung entstehen, konstatiert beispielsweise eine Studie von Haufe Talent und der Hochschule Stuttgart. Aber funktionieren die Intention der Methode und die Versprechungen in der Praxis? Nicht immer, obgleich unserer Erfahrung nach die häufigsten Probleme in System- und Anwendungsfehlern liegen.
Systemfehler – OKR kennt keine Transformation
Ein neu zu gründendes Unternehmen von Anfang an auf OKR auszurichten und schon bei der Einstellung von Mitarbeitenden auf den Methodenfit zu achten ist vielversprechend. Bestehende Unternehmen stehen vor größeren Herausforderungen. Die Anwendung der Methode erfordert die komplette Akzeptanz, Annahme und Verankerung der Parameter im ganzen Unternehmen. Wesentlich dabei ist eine, insbesondere in Deutschland selten gelebte, hohe Transparenz. Eine innere Ausrichtung auf OKR kollidiert oft mit den teils tradierten Ansprüchen der Aufsichtsgremien und führt schlimmstenfalls zu einer doppelten Buchführung im Sinne der Zielsysteme und dem damit einhergehenden Overhead-Aufwand. Dies senkt ebenso die interne Akzeptanz der Methode.
Anwendungsfehler – gut gedacht ist nicht gut gemacht
Auf der anderen Seite steht die Anwendung der Methode. Schon die Definition der konkreten Objectives und Key Results erfordert einen begleiteten langfristigen Change-Prozess, um Mitarbeitende und Führungskräfte von den vertrauten Pfaden zu locken. Denn jeder Teilnehmer im Prozess, egal ob bei der Aufstellung oder Erfüllung der Ziele, hat seine eigenen Erfahrungen und startet nicht auf Kommando bei null. Wer jahrelang an Zielerreichungen von 100 % und mehr gewöhnt war, hat oft Probleme mit der wirklich ambitionierten Definition von Key Results. In der Praxis trifft man aufgrund der anderen Sozialisierung dann entweder auf wenig anspruchsvolle Key Results oder auf demotivierte Mitarbeitende, weil die Key Results zwar hinreichend ambitioniert formuliert, persönliche Bonifikationsfaktoren aber nicht darauf angepasst wurden.
Als einfaches Allheilmittel kann OKR also nicht gelten. Doch bedeutet das zwangsläufig ein Weiter-so? Unsere Perspektive für die weitere Entwicklung in 2023: Der Zweck bestimmt die Methode. Ist das Unternehmen im kulturellen Transformationsprozess hinreichend weit fortgeschritten, kann OKR ein weiterer Baustein auf dem Weg zur zukunftsfähigen Organisation sein. Wichtig sind an dieser Stelle ein tiefes Verständnis der Methodenphilosophie, ein breites Commitment über alle Ebenen und Gremien des Unternehmens hinweg und genügend Zeit für die Umsetzung. Die ersten Planungszyklen sind erfahrungsgemäß selten fruchtbar und dienen eher der Gewöhnung an die Methode. Eine wichtige Grundregel bleibt jedoch bestehen:
Zielplanung und Zielmethodik ist originäre Strategiearbeit: Ist das große Unternehmensziel nicht klar, kann der Weg dorthin nicht gefunden werden. Hier ist das Management gefragt!
Auf dem weiteren Weg zu einer guten Lösung für das Unternehmen, der OKR sein kann, aber nicht sein muss, zeigen sich aus unseren Erfahrungen folgende Schritte:
- Verschaffen Sie sich ein ehrliches und direktes Bild über Ihr heutiges Zielsystem, insbesondere darüber, welche Facetten die unterschiedlichen Zielgruppen daran schätzen und welche Probleme von ihnen gesehen werden.
- Gleichen Sie die aktuellen Bestandteile mit der Vision des Unternehmens ab. Was zahlt darauf ein, was sind echte Abhängigkeiten und Verpflichtungen und bei welchen Bestandteilen fällt es schon schwer, einen konkreten Zusammenhang zu finden?
- Entflechten Sie gewachsene Kombinationen – die Einhaltung aufsichtsrechtlicher Anforderungen ist wichtig, aber per se eine Standardvorgabe und kein Unternehmensziel. Themen wie diese sollten kein Bestandteil des Zielsystems sein, sondern festes Grundrauschen und Standard im Unternehmen und sie gehören in das interne Kontrollsystem (IKS).
- Entschlacken Sie die Zielsysteme – nur wenige Mitarbeitende können sich auf 15 Zielindikatoren gleichzeitig konzentrieren.
- Nennen Sie Ziele nicht nur, erklären Sie diese und planen Sie dafür wirklich Zeit ein. Jeder und jede Mitarbeitende, der oder die wirklich versteht, warum die eigene Arbeit zum Unternehmenserfolg beiträgt, ist ein Gewinn für die Zukunft.
- Dosieren Sie die Veränderung verträglich. Sie können zwar mit dem Schnellzug losfahren, wenn aber noch nicht alle Mitarbeitenden einsteigen konnten, ist der Effekt verpufft.
- Etablieren Sie Weiterentwicklung als laufenden Prozess und räumen Sie den beteiligten Mitarbeitenden dafür genügend Zeit ein – sonst wird aus der chancenreichen kontinuierlichen Verbesserung auch nur ein Haken, der möglichst schnell und aufwandsarm jährlich in einer Checkliste gesetzt wird.
Zieldefinitionen und -vereinbarungen sind kein Selbstzweck, sondern kritischer Erfolgsfaktor für die Unternehmenszukunft. Wer noch immer glaubt, mit den Methoden und Messgrößen der industriellen Revolution zu steuern, riskiert – trotz übererfüllter Ziele – den Fortbestand des Unternehmens. Höchste Zeit für einen Relaunch!
Zu den Autoren Michael Zwergel und Florian Heldner sind Berater im Geschäftsbereich Banking von Sopra Steria. Sie begleiten und beraten Banken und Sparkassen bei strategischen Maßnahmen und Vorhaben zur Veränderung der stark regulierten Banken IT. |