Nachgefragt bei Frédéric Munch, Vorstand, zu den Ergebnissen der Studie Potenzialanalyse Reality Check Digitalisierung.
Einzelne digitale Services anzubieten, gilt als wichtiger Baustein bei der Digitalisierung ganzer Geschäftsmodelle. 89 Prozent der Entscheider sagen im Rahmen der Studie, dass ihr Unternehmen diese entweder schon eingeführt hat, daran arbeitet oder dies zumindest plant. Zeigt das nicht, dass wir bei der Digitalisierung auf einem guten Weg sind?
Das ist mir zu pauschal gedacht. Zum einen hat branchenübergreifend nicht einmal ein Drittel (31 Prozent) der Unternehmen tatsächlich digitale Services bislang eingeführt. Zum anderen lohnt es, tiefer in die Zahlen einzusteigen. Die Befragung zeigt nämlich auch, dass es große Differenzen zwischen den einzelnen Branchen gibt. Im Public Sector beispielsweise geben 73 Prozent der Entscheider an, dass digitale Services bereits im Einsatz sind oder derzeit eingeführt werden. Das ist das Ergebnis des Onlinezugangsgesetzes (OZG). In der verarbeitenden Industrie beschäftigen sich die Unternehmen zwar auch mit dem Thema und haben es sich auf die Agenda gesetzt. Es fehlen aber noch die konkreten Anwendungsfälle in der Fläche.
Wer sich bislang nicht mit digitalen Services beschäftigt hat, wird das nachholen, um sein bestehendes Geschäft zu bewahren. Digitale Services sind kein Nice-to-have, sondern ein wichtiges Umsatzstandbein, das in einer zunehmend kundenfokussierten und weniger produktfokussierten Welt weiter an Relevanz gewinnen wird. Digitale Services verbessern die bestehenden Produkte und die Qualität der Kundenbeziehung.
Viele Entscheider erkennen zudem bei der Entwicklung digitaler Services, dass auch bei anderen Digitalisierungsschritten Nachholbedarf besteht. Das gilt beispielsweise für die Standardisierung und Automatisierung in Corporate- und unterstützenden Abteilungen wie dem Personal- und Rechnungswesen sowie für die flächendeckende Einführung digitaler Arbeitsplätze.
Ein Drittel der befragten Entscheider beklagt, dass die Digitalisierung bislang nicht zu den gewünschten Kosteneinsparungen geführt hat. Sind die zu ungeduldig?
Das Problem ist eher die Sichtweise auf Digitalisierung als Kosteneinsparprogramm. Die Digitalisierung kann zu Kosteneinsparungen führen. Unter einer Prämisse: dass ich mein bestehendes Business neu aufstelle. Wenn ich durch Digitalisierung Kosten sparen will, benötige ich einerseits dafür die digitalen Technologien. Ich muss aber auch mein Organisationsmodell überdenken, Abläufe neu definieren. Den Beschäftigten wiederum muss ich beibringen, mit diesen Technologien richtig umzugehen und Wege für die Zusammenarbeit aufzeigen. Sie sind diejenigen mit den besten Vorschlägen.
Und all das muss ich als Unternehmen kundenfokussiert und nicht prozesszentriert denken. Die Digitalisierung selbst ist immer nur ein Instrument, ein Vehikel. Sie schafft die Voraussetzungen, beispielsweise für Kosteneinsparungen. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied, der oftmals wohl nicht so klar ist.
Das Potenzial, das Big Data Analytics, Robotic Process Automation (RPA) und Cloud-Computing bieten, ist Entscheidern inzwischen bewusst. Nur eine Minderheit hält diese Technologien für überschätzt. Anders verhält es sich hingegen mit Künstlicher Intelligenz (KI) und Blockchain, die 26 beziehungsweise 38 Prozent der Entscheider für die am meisten überschätzten Technologien halten. Wie erklärst du dir das?
Mit der Komfortzone. Will ich Big Data Analytics, RPA oder Cloud Computing nutzen, kann ein Unternehmen sein Geschäftsmodell zunächst unangetastet lassen. Stattdessen nutzt es diese Technologien, um Prozesse zu optimieren. Für den erfolgreichen Einsatz von KI oder auch der Blockchain-Technologie muss ich jedoch sofort sehr viel tiefer in das Operating Modell eingreifen und auch mein Geschäftsmodell hinterfragen. Welche Ziele verfolge ich mit dem KI-Einsatz, welche Produkte sind damit verknüpft, welche Daten benötige in welcher Form?
Ähnlich verhält es sich mit Blockchain-Anwendungen in der Praxis. Spannend sind diese Technologien für Unternehmen, die sich trauen, ihre Komfortzone zu verlassen und neue Produkte und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln – besonders hinsichtlich ihrer Wertschöpfungsketten und Ökosysteme.
Der Einsatz von Blockchain bringt vor allem dann einen Mehrwert, wenn verschiedene Beteiligte an einer Wertschöpfungskette zusammengebracht werden. Das gilt vor allem für die Industrie: Jedes zweite Manufacturing-Unternehmen hält die Blockchain-Technologie für überschätzt. In der öffentlichen Verwaltung sieht das nur jeder vierte Entscheider so. Allein diese gravierenden Unterschiede sagen mir, dass die Komfortzone das Problem ist und nicht der Hype um die Technologien.
Die Veränderung der Unternehmenskultur und ein neues Mindset haben sich besonders viele Entscheider auf den Zettel geschrieben. Zwei Drittel arbeiten entweder daran oder planen dies, so die Studie. Konkret umgesetzt haben diese Digitalisierungsmaßnahme aber nur elf Prozent der Unternehmen bislang. Doch ist das nicht nur eine Frage der Messbarkeit?
Es ist sicherlich richtig: Sprechen wir über die Automatisierung oder das Standardisieren von Prozessen oder die Verlagerung von IT-Infrastruktur, dann gibt es darüber meist keine zwei Meinungen. Bei der Frage, ob ich ein neues Mindset in den Köpfen meiner Mitarbeiter etabliert habe, sieht das schon anders aus. Doch auch hier haben wir Methoden, den Change zu messen – und als Unternehmen sollte ich diese Methoden nutzen.
Wir beobachten allerdings ganz oft das Gegenteil, dass Unternehmen also einen Kulturwandel predigen, ihn aber nicht begleiten und nicht nachprüfen. In einer Befragung für unsere Studie Branchenkompass Public Sector kam beispielsweise heraus: Nur jede dritte Behörde plant die Einführung passender Instrumente zur Erfolgsbewertung für interne Veränderungen, beispielsweise Benchmark-Vergleiche mit anderen Behörden oder Unternehmen. Eine Steuerung von Veränderungsmaßnahmen über Kennzahlen wie Balanced Reorganisation Scorecards ist nur in 17 Prozent der befragten Verwaltungen vorgesehen.
Kennziffern wie die genannten sowie die Beteiligung von Mitarbeitern an internen Projekten, die Employee Turnover Rate oder interne Umfragen zur Zufriedenheit mit dem Management sind essentiell, damit Investitionen wirken und nicht verpuffen.
Bei der Unternehmenskultur ist die Führung im hohen Maße gefordert. Denn was meint Unternehmenskultur eigentlich? Sie ist Ausdruck einer Organisationsform, die ich als Unternehmen entwickle, um meine strategischen Ziele zu erreichen – mit anderen Worten: Sie ist die Grundlage von allem. Da sollten sich Entscheider nicht auf ihr Bauchgefühl verlassen, sondern auf Fakten.
Vielen Dank für das Gespräch, Frédéric !
Frédéric Munch ist Vorstand von Sopra Steria. Er liefert die strategische Sicht auf die Digitalisierung.
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