„Automatisierung darf nicht an der Schnittstelle zu den ‚Kundinnen und Kunden‘ der öffentlichen Verwaltungen enden“

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Nachgefragt bei Wael Alkhatib zu KI-gestütztem Einwendungsmanagement in der öffentlichen Verwaltung.

Stromtrassen für die Energiewende, neue LNG-Terminals, die Tesla-Fabrik in Brandenburg oder der Ausbau des Bahnnetzes quer durch Deutschland: Bei jedem dieser Vorhaben gibt es Menschen, die etwas dagegen haben – und das sind nicht wenige. Die zuständigen Behörden müssen Tausende von Einwänden bearbeiten. Damit die Umsetzung vielversprechender Projekte davon nicht über Gebühr ausgebremst wird, muss das Abarbeiten dieser Einwendungen schneller werden. Sopra Steria hat gemeinsam mit Partnern vom Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme (FOKUS) in einer Pilotstudie für das Deutsche Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) beim Eisenbahn-Bundesamt* ausgearbeitet, wie ein KI-gestütztes Einwendungsmanagement die Verfahren beschleunigen kann. Wir haben bei Wael Alkhatib, Tech Lead KI@Public Sector bei Sopra Steria, nachgefragt, was bei der Studie herausgekommen ist.

Kann sich FDP-Verkehrsminister Volker Wissing freuen, wenn der formale Protest gegen Bahnstreckenverläufe oder eine neue Stromtrasse mithilfe intelligenter Technik demnächst schneller bearbeitet wird und sich Projekte dann nicht mehr ewig hinziehen?

In einem gewissen Umfang schon. Freilich sind die Einwendungen und Stellungnahmen von Bürgerinnen und Bürgern ja nur ein Verzögerungsgrund von mehreren. Im behördlichen Alltag werden sie allerdings bislang von Hand abgearbeitet. Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter sichten Dokumente und erfassen die Informationen in den jeweiligen Fachsystemen. Und genau an dieser Stelle wird Künstliche Intelligenz helfen, Planfeststellungsverfahren, Raumordnungsverfahren und weitere Genehmigungsverfahren ein Stück weit abzukürzen. In der Studie für das DZSF konnten wir zeigen, dass es möglich ist, den Prozess massiv zu beschleunigen, die Beschäftigten zu entlasten, Kosten zu sparen und im Ergebnis eine effizientere fachliche Bearbeitung zu bieten.

Dialogsysteme, Chatbots und Lösungen zur Texterkennung gibt es schon länger – siehe den Chatbot-Basisdienst mit dem C-19 zur COVID-19-Pandemie oder den Brexit-Bot des Zolls. Worin unterscheidet sich der KI-Einsatz bei einem Einwendungsmanagement von derlei Systemen?

Die Besonderheit liegt in der Komplexität und im Erkennen des jeweiligen Kontextes. Die Bürgerinnen und Bürger formulieren ihre Einwendungen gegen ein Bauvorhaben auf ihre eigene Weise. Um diese angemessen und effizient zu bearbeiten, ist es nicht damit getan, einzelne Schlagwörter in einem Text zu erkennen.

Wenn zum Beispiel jemand einen Einwand gegen eine neue Eisenbahntrasse oder eine Straße geltend machen möchte, wird das Schreiben wahrscheinlich nicht ausschließlich rationale Argumente enthalten, sondern auch Hinweise auf die Historie einer Region oder den Naturschutz. Außerdem enthält ein Brief im Normalfall Formalien wie Anrede oder Adresszeile.

Eine KI-Lösung unterteilt das Schreiben daher in verschiedene Segmente und kann zwischen ihnen unterscheiden. Da es für jeden Einwand auch eine Antwort braucht, gleicht die KI ab, inwieweit für die erkannten Argumente bereits Erwiderungen vorhanden sind und welche Argumente sich bei verschiedenen Einwänden wiederholen. Letzteres kann ein Hinweis darauf sein, dass es sich um Masseneinwände handelt, die anhand von Musterschreiben erstellt wurden. Allein für diese beiden Prozessschritte – das Erkennen der Argumente und ihren Abgleich mit den vorhandenen Einwänden – mussten wir eine ganze Reihe von Herausforderungen meistern.


 

Deckblatt Pilotstudie KI-gestütztes Einwendungsmanagement

Die Studie des Deutschen Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) finden Sie hier zum Download.


Was für Herausforderungen waren das?

In der KI-Welt sprechen wir von einem binären Klassifikationsproblem, wenn bei den bearbeitungsrelevanten Segmenten, also zum Beispiel bei den unterschiedlichen Textteilen, zwischen einem echten Sachargument und einem bloßen Textelement wie Adresse oder Anrede unterschieden werden soll. Für die Pilotstudie haben wir einen Datenbestand mit 4.691 relevanten Segmenten bearbeitet, davon waren 3.459 Argumente und 1.232 Hinweise.

Die Argumente nach Ober- und Unterthemen zu sortieren, ist ein mehrstufiger Prozess. Bei manueller Durchführung dauert das seine Zeit und die Arbeit ist fehleranfällig, weil die Bewertung subjektiv ausfallen kann. In der Studie hatten wir es mit zwölf Oberthemen zu tun, darunter Denkmalschutz, Naturschutz und den Schutz vor Bränden und Katastrophen. Zu diesen Oberthemen kamen 33 Unterthemen hinzu. Ob ein Argument zum Naturschutz, wie der Erhalt eines kleinen Wäldchens am Stadtrand, sich dann eher dem Unterthema Landschaftsschutz zuordnen lässt oder doch vielleicht dem Gebietsschutz, dürften verschiedene Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter durchaus unterschiedlich beurteilen. Die KI ist da eindeutig.

Zusätzlich zum Klassifikationsproblem muss bei der Suche die Herausforderung gelöst werden, Argumentationsmuster in verschiedenen Einwendungen zu erkennen. Hierfür werden einzelne Segmente mit allen vorhandenen Segmenten in der Datenbasis verglichen. Dieser Schritt ist wichtig, weil wir es bei solchen Verfahren oftmals mit Muster- und Mehrfacheinwendungen zu tun haben. Menschen müssten jede dieser Mehrfacheinwendungen einzeln bearbeiten, weil sie sie wahrscheinlich nicht auf Anhieb wiedererkennen. Eine KI hingegen erkennt die Muster und hilft so, Zeit einzusparen.

Übernimmt in den Behörden künftig eine KI mit diesen Fähigkeiten das komplette Einwendungsmanagement?

Nein. Die Behörden brauchen weiterhin die Beschäftigten, allein schon aus rechtlichen Gründen. Die Mitarbeitenden kontrollieren und verantworten am Ende auch die Ergebnisse, die ihnen die KI liefert.

Allerdings gibt es zwei Entwicklungen: Öffentliche Verwaltungen kämpfen gegen den Personalmangel und gleichzeitig wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und die Politik, dass Verfahren zügiger ablaufen. Ohne Prozessautomatisierung ist es nicht möglich, diesen Mangel zu bekämpfen und alle Wünsche zu berücksichtigen. Nur so können sich Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter auf fachlich anspruchsvolle Aufgaben fokussieren und administrative Dinge einer Software überlassen.

Die Automatisierung darf allerdings nicht an der Schnittstelle zu den „Kundinnen und Kunden“ der öffentlichen Verwaltungen enden. Es ist essenziell, dass auch die dahinterliegenden Prozesse digitalisiert und automatisiert werden. Behörden wollen das Problem nicht verlagern, sondern lösen.

Dieses Bewusstsein und die Erfahrungen mit einer Ende-zu-Ende-Digitalisierung werden dazu führen, dass sich mittelfristig komplexere KI-Lösungen als digitale Assistenten in Verwaltungsprozessen etablieren und zum Alltag in Behörden gehören werden. Ihre Rolle wird allerdings immer die eines Helfers sein, niemals die eines Entscheiders.

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* In der vom Deutschen Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) beauftragten „Pilotstudie für ein KI-gestütztes Einwendungsmanagement“ wurde untersucht, inwieweit Künstliche Intelligenz dabei helfen kann, die manuelle Bearbeitung von Einwendungen, Stellungnahmen und Erwiderungen in Teilbereichen des Planfeststellungsverfahrens zu unterstützen. 

 

Wael Alkhatib


Wael Alkhatib ist Spezialist für den Einsatz von KI-Technologie zur Prozessautomatisierung. Sein Spezialgebiet ist die Vorverarbeitung von strukturierten und unstrukturierten Daten sowie die Erstellung von Vorhersagemodellen.

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