Datenabhängige Versicherungen avancieren zum Wachstumstreiber. Fast jeder zweite Versicherer in Deutschland (48 Prozent) erwartet in den kommenden ein bis zwei Jahren, dass verhaltensabhängige Tarife massiv an Relevanz zulegen werden. Zum Vergleich: 2019 glaubten 31 Prozent der Manager an einen Schub. Cyber-Security-Versicherungen und Bündeltarife sind ebenfalls im Kommen. Das ergibt die Studie Branchenkompass Insurance 2021 von Sopra Steria in Zusammenarbeit mit dem F.A.Z.-Institut.
Jeder dritte Entscheider in der Versicherungsbranche erwartet bis
2023 eine spürbare Bewegung in der Produktlandschaft, so die Studie. Neue
Anbieter — teils aus anderen Branchen wie etwa Tesla Insurance — befeuern den
Wettbewerb. Zudem kooperieren diese Unternehmen mit klassischen Versicherern
und bringen so Impulse für neue Angebote in den Markt.
„Die Versicherer bekommen derzeit ein Gespür dafür, wie sie mit
den vorhandenen und frei verfügbaren Daten neue Produkte entwickeln können, die
ihren Kunden weiterhelfen“, sagt Nils Stölken, Leiter des Geschäftsbereichs Insurance bei Sopra Steria. Treiber
sind unter anderem getätigte Investitionen in digitale Prozesse und
IT-Infrastruktur – auch beflügelt durch die Corona-Pandemie. „Was viele Häuser
in den vergangenen 15 Monaten an Know-how in digitaler Beratung und
Cloud-Computing aufgebaut haben, wird in zwei Jahren auch bei den Produkten zu
sehen sein“, so Stölken.
Im Privatkundengeschäft bieten Versicherer bereits datenbasierte
Versicherungen an. Dazu zählen unter anderem Telematiktarife in der
Kfz-Versicherung. Versicherungsnehmer können bei diesen Policen ihren Beitrag
durch das Fahrverhalten beeinflussen. Wer frühzeitig bremst, viel Abstand lässt
oder durch frühes Schalten die Umwelt schont, bekommt Preisnachlässe.
Versicherer schöpfen das Potenzial auf diesem Gebiet allerdings längst nicht
aus. Denkbar sind beispielsweise automatisierte Angebote für Mietwagennutzer.
Mithilfe von Geodaten könnten Anbieter feststellen, wenn ein Fahrzeug eine
Landesgrenze überfährt, den erforderlichen Versicherungsschutz automatisch
hinzubuchen und das Auslandsrisiko kilometergenau abrechnen. Unangenehme
Vertriebsgespräche der Mietwagenfirmen könnten entfallen und Kunden spontan
über Routenänderungen entscheiden.
Im Firmenkundengeschäft weckt das industrielle Internet der Dinge
die Wachstumsfantasie bei den Industrieversicherern. Datenbasierte
Geschäftsmodelle der Industrie bieten Potenzial für Versicherer, diese Daten
auch für neue Tarife zu nutzen. Maschinendaten ermöglichen unter anderem
Beiträge, die sich nach der tatsächlichen Nutzung richten. Unternehmen würden
in diesem Fall für ihr individuelles Risiko bezahlen. Die Art der Tarife würde
sich weg vom pauschalen Jahresbeitrag hin zu einer dynamischen Abrechnung bewegen.
Beiträge ließen sich beispielsweise an Produktionsmengen anpassen oder an
Daten, die das Schadenrisiko beeinflussen. Der Beitrag würde sich in dem Fall
automatisch erhöhen, sobald Temperatur oder Geschwindigkeit bestimmte
Schwellenwerte überschreiten.
Cyber-Security- und Baukasten-Versicherungen sind wichtige
Produktsäulen
Mit der Vernetzung von Maschinen und Anlagen mit dem Internet
sowie dem Einsatz von Sensoren steigt das Risiko von Hackerangriffen, die
versichert und präventiv geschützt werden wollen. Die Absicherung der Schäden
durch Cyberattacken etabliert sich seit rund zwei Jahren als Standbein im
Produktportfolio der deutschen Versicherer. 49 Prozent der befragten
Entscheiderinnen und Entscheider erwarten einen erheblichen Nachfrageschub,
acht Prozentpunkte mehr als 2019.
Ebenfalls 49 Prozent der befragten Versicherer setzen auf Themen-
und Bündelversicherungen – entweder als Einkäufer bestimmter Spezialbausteine
oder als Lieferant. Rechtsschutzanbieter wie die NRV (Neue
Rechtsschutzversicherungsgeselleschaft) beteiligen sich beispielsweise mit
maßgeschneiderten Konzepten an kombinierten Produkten, in denen
unterschiedliche Policen zu einer Lösung gebündelt werden. Die Unternehmen
liefern unter anderem den Rechtsschutzbaustein an Kfz- und
Privathaftpflichtversicherer.
Datenbasierte Tarife und Bündelprodukte erfordern von den
Versicherern, dass sie sich technologisch und bei ihren Geschäftsprozessen an
diese Geschäftsmodelle anpassen. Zwei von drei Befragten gehen davon aus, dass
die IT im eigenen Haus 2023 nicht mehr viel mit der von heute gemein haben
wird, so die Studie. „Technologisch erfordern die neuen Produkte eine
umfassende Öffnung der Datengrenzen (API-Orientierung), und organisatorisch
müssen Versicherer ihr Spartendenken ebenfalls aufgeben“, sagt
Sopra-Steria-Berater Nils Stölken.
Über die Studie
Für den „Branchenkompass Insurance 2021“ wurden im April 2021
insgesamt 108 Führungskräfte aus der Versicherungsbranche befragt. Die
Online-Befragung führte das Marktforschungsinstitut mo’web research im Auftrag
von Sopra Steria und dem F.A.Z.-Institut durch. Zusätzlich wurden
Telefoninterviews mit drei Entscheidern aus der Versicherungsbranche geführt:
mit Michael Diener, Vorstandsmitglied der Neuen
Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft (NRV), mit Dr. Matthias Uebing, Gründer
und Vorstand der mailo Versicherung, und mit Guido Leber, Bereichsleiter für
die Konzern- und Unternehmensstrategie der ALH Gruppe. Die drei Entscheider
berichten in der Studie über ihre Erfahrungen, Pläne und Standpunkte.
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