Herr de Jonge, die Mehrheit der Bundesbürger sieht deutsche Behörden im internationalen Vergleich als rückständig an, zeigt das neue Digital Government Barometer von Sopra Steria. Ist diese Einschätzung zutreffend?
Teils, teils. Aus dem Blickwinkel der Bürgerinnen und Bürger hat die öffentliche Verwaltung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern im Ergebnis noch nicht so viel erreicht. Man muss das aber im Kontext sehen. Aus guten Gründen haben wir ein föderales System. Diese dezentrale Organisation zu koordinieren ist komplex. Innerhalb der Bevölkerung ist es beispielsweise nicht jedem klar, dass ein Datenaustausch oder die Entwicklung gemeinsamer digitaler Plattformen zwischen Behörden in Hamburg und dem Saarland nicht ohne weiteres möglich sind. Beide Länder haben den hoheitlichen Auftrag, den Interessen ihrer Bevölkerungen zu dienen. Für eine Kooperation der Länder müssten teilweise Gesetze angepasst werden.
Dazu kommt, dass derzeit im Hintergrund vieles in Richtung Digital Government bewegt wird, was für die künftige Bereitstellung von Online-Diensten absolut notwendig ist. Dazu zählt unter anderem, dass ein IT-Planungsrat die Aktivitäten koordiniert, dass ein Onlinezugangsgesetz (OZG) Verbindlichkeit herstellt und dass sich unter anderem ein Digital Innovation Team um den kulturellen Umbau der Verwaltungen kümmert.
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Was müssen deutsche Behörden tun, um auf die digitale Überholspur zu kommen?
Tempo ist das eine. Die Qualität im Ergebnis ist jedoch mindestens ebenso wichtig und sollte nicht ohne weiteres Zugunsten der Geschwindigkeit vernachlässigt werden. Die digitalen Lösungen, aber auch die internen Abläufe, die Organisation und die Kultur werden derzeit so konzipiert, dass sie den Kunden, also die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum stellen. Konkret: Die Leistungen müssen sich an den jeweiligen Lebenslagen der Bürger orientieren. Das erfordert eine Integration unterschiedlicher Onlinedienste, zum Beispiel für die Geburt eines Kindes, Umzug oder einen Todesfall. Ideal ist, wenn die Lösungen mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen entwickelt werden. Wir haben dafür beispielsweise ein Customer Journey Framework entwickelt. Wenn diese qualitativen Voraussetzungen bei der Entwicklung digitaler Lösungen stimmen, wird sicherlich auch das Tempo anziehen.
Stichwort Lebenslagenkonzept und Bürgerzentrierung: Die öffentliche Verwaltung muss dazu agiler werden beim Erfüllen von Wünschen aus der Bevölkerung. Gleichzeitig kann sie es sich nicht in dem Maße wie Unternehmen leisten, agile Modelle wie eine Kultur des Probierens und des Scheiterns zu installieren. Das widerspräche dem hoheitlichen Auftrag einer zuverlässigen und immer gleich funktionierenden Verwaltung. Wie schafft es die öffentliche Verwaltung, dennoch agiler zu arbeiten?
Zunächst einmal bietet das Spektrum agiler Methoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking jede Menge Möglichkeiten, sich schnell an neue Bedingungen und an Kundenbedarfe anzupassen. Die Verantwortlichen sollten sich allerdings von einer schablonenartigen Einführung wie bei anderen Organisationen und Projekten lösen und immer wieder individuell hinschauen, was die beste Lösung für die Bürgerinnen und Bürger ist.
Die richtige Balance ist dabei ausschlaggebend für den Erfolg. In der öffentlichen Verwaltung und in Unternehmen wird es beispielsweise auch in Zukunft ein Nebeneinander zwischen agiler und linienorientierter, hierarchischer Organisation geben. Wir nennen das Merged Bimodal Organisation.
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Viele Behördenmitarbeiter zögern bei digitalen Abläufen. „Die Akte auf meinem Schreibtisch habe ich im Griff“, ist ein weit verbreitetes Gefühl. Was kommt durch die Digitalisierung auf Verwaltungsmitarbeiter zu?
Für einen Teil der Behördenmitarbeiter – übrigens nicht nur in Behörden, sondern überall – trifft das vielleicht zu. Es ist die grundsätzliche Skepsis gegenüber Neuerungen, mit denen Routinen durchbrochen werden. Und in der Tat kommen derzeit auf Beschäftigte in der Verwaltung genauso wie in Unternehmen sowie im privaten Alltag tiefgreifende Veränderungen zu. Die Digitalisierung lässt keinen Stein auf dem anderen. Allerdings ist das ein Prozess und passiert nicht von heute auf morgen.
Neben dem Zögern beobachten wir allerdings mindestens genauso häufig ein großes Interesse, ja sogar die Erwartung der Beschäftigten in der Verwaltung, dass sie durch die Mittel der Digitalisierung einen modernen Arbeitsplatz haben. Gerade junge Beschäftigte und der Nachwuchs stellen diese Erwartungen an ihren Arbeitgeber. Möchte die Verwaltung im Wettbewerb um diesen Nachwuchs konkurrenzfähig sein, muss sie diese Modernisierung mutig mitvollziehen.
Wie gelingt es, in Behörden einen Kulturwandel zu schaffen und mehr Begeisterung für Digitalisierung zu wecken?
Neben der Begeisterung für Zukunftstechnologien zeigen sich bei den Beschäftigten natürlich auch andere Reaktionen: Skepsis, Unbehagen, Unsicherheit und Ablehnung. Das ist aus emotionaler Sicht nachvollziehbar. Gewohnte Routinen werden durchbrochen, vorhandenes Fach- und Prozesswissen verliert seine Relevanz, genauso wie die bekannte Organisation und die eigene Position darin. Zusätzlich bedeutet die Erschließung der Innovationen Aufwand: Parallel zum Verlust der gewohnten Arbeitswelt ist das zeitintensive Erlernen neuer Technologien und ungewohnter Prozesse erforderlich.
Diese soziale Konstellation ist ein kritischer Erfolgsfaktor für die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung. Sie kann jedoch erfolgreich gemanagt werden. Ein effektives Akzeptanzmanagement setzt vor dem Hintergrund des beschriebenen Szenarios zwei Schwerpunkte:
- Fachliche Betroffenheit: Schulungskonzepte, die eine Balance zwischen notwendigem Aufwand und hervorragender Qualität der Schulungen herstellen.
- Emotionale Betroffenheit: Kommunikationskonzepte, die den Betroffenen die Ziele der Veränderung glaubhaft vermitteln und sie aktiv und ernsthaft am Veränderungsprozess beteiligen.
Die Mehrheit der Bundesbürger kann sich vorstellen, komplett auf den Gang in die Behörde oder das Amt zu verzichten. Ist es technisch und rechtlich möglich, dass wir beispielsweise Ausweise wie Reisepass oder Personalausweise komplett online bestellen, bezahlen und das Endprodukt zugeschickt bekommen? Wie realistisch sind diese Szenarien?
Das ist sehr realistisch. Technisch ist ein solcher Prozess umsetzbar. Dennoch wird es aus den oben genannten Gründen seine Zeit dauern. Gerade die Digitalisierung des Antrags von Ausweispapieren erfordert ein großes Maß an Sicherheit. Das zeigt ja auch das Digital Government Barometer. Zudem wird es noch dauern, bis wir nicht mehr von Ausweispapieren sprechen, sondern von digitaler ID. Dafür sind nationale wie internationale Abkommen notwendig, um digitale Dokumente anzuerkennen.
Herr de Jonge, vielen Dank für das Gespräch!
Ronald de Jonge
Leiter Management Consulting im Geschäftsbereich Public Sector