Nachgefragt! mit Martin Stolberg, Division Partner Banking bei Sopra Steria, zum Managementkompass Digitale Ökosysteme
Deutsche Unternehmen haben die Plattformwelt entdeckt: Der Managementkompass Digitale Ökosysteme von Sopra Steria zeigt, dass für 63 Prozent der Unternehmen die Vorteile bei der Teilnahme an Plattformen überwiegen. Nur zehn Prozent betrachten sie als nicht relevant für ihr Geschäft. Ist die deutsche Wirtschaft auf dem richtigen Weg?
Martin Stolberg: Sie hat zumindest die richtige Richtung eingeschlagen. „Digitale Plattformen werden sich in praktisch jeder Branche etablieren“, sagt BITKOM-Chef Achim Berg in unserem Managementkompass. „Die Plattformen brechen über Jahrzehnte gewachsene Wertschöpfungsketten auf, sorgen für größere Transparenz und schaffen mehr Wettbewerb. Unternehmen sollten alle Möglichkeiten ausloten, solche Plattformen aufzubauen oder zu nutzen.“ Dem schließe ich mich ausdrücklich an, denn Plattformen und digitale Ökosysteme werden klassische Geschäftsmodelle fundamental verändern. Das ist eine riesige Chance für Unternehmen sich auf der Basis digitaler Technologien neu zu erfinden, birgt aber auch das Risiko für Unentschlossene, auf der Strecke zu bleiben. Das gilt konkret für rund die Hälfte der von uns befragten Unternehmen, die Plattformen ablehnen oder sich noch nicht zur Teilnahme entschlossen haben.
Die andere Hälfte nutzt mehrere Optionen, um ans Ziel zu kommen. Daimler und BMW etwa bauen gemeinsam mit Your Now unter dem Dach des Joint Ventures „ Moovel“ einen eigenen Weg jenseits der großen Plattformen, um urbane Mobilität in smarten Städten entwickeln und anbieten zu können. Otto entwickelt seine Plattform aus dem eigenen Geschäft heraus und wird im laufenden Geschäftsjahr rund 100 Millionen Euro in die Weiterentwicklung stecken – über einen neue Firmenzentrale sowie Zukäufe und eigene technische Entwicklungen. Und als dritter Weg steht auch die Teilnahme an bestehenden Ökosystemen offen, wie es einige DAX-Unternehmen und größere Mittelständler bei Verimi gemacht haben, wo sie ihren Kunden ein sicheres Identitätsmanagement mit Single Sign-on ermöglichen.
Warum sind Ökosysteme und Plattformen überhaupt so wichtig?
Sie bringen klare Wettbewerbsvorteile, bieten Unternehmen einen Zugang zu neuen Kunden und Märkten. Durch die Nutzung von Plattformen lassen sich Kosten sparen, zum Beispiel im Vertrieb. Gleichzeitig lohnt es sich, auf Plattformen präsent zu sein, weil die Kunden sie einfach immer stärker nutzen. Deshalb sind Banken, Versicherer sowie Energieversorger und Telekommunikationsdienstleister trotz ihrer Ambivalenz mittlerweile quasi vollständig auf Vergleichsplattformen vertreten.
Die gestiegene Bedeutung der Plattformen findet sich bereits in den Regularien der EU wieder: Mit der neuen Zahlungsdiensterichtlinie PSD2, die am 14. September 2019 in Kraft tritt, formuliert die EU klare Richtlinien für den Geldverkehr auf Online-Plattformen und erleichtert das Überweisen und Bezahlen jenseits der klassischen Banken – bei gleichzeitig gestiegenen Anforderungen an die Sicherheit solcher Zahlungsdienste. Aus Kunden- und Anbietersicht vollzieht sich damit ein fundamentaler Wandel.
Dazu kommt: Mit der Teilnahme an Plattformen und die Nutzung digitaler Ökosysteme lässt sich eine Vielzahl wertvoller Daten generieren, die zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle genutzt werden können. Übrigens nicht nur für sich allein, sondern auch in Kooperation mit Wettbewerbern oder Unternehmen aus anderen Branchen. 83 Prozent der Befragten sagen: Kundenanforderungen sind derart komplex, dass neue digitale Geschäftsmodelle nur mit Partnern funktionieren. Das erfordert auch eine ganz neue Wettbewerbskultur: Statt sich von Wettbewerbern abzuschotten, öffnet man sich.
Eine ganze Reihe von Unternehmen versucht derzeit, ihren Online-Shop in eine Plattform zu verwandeln, indem sie ihn für Angebote anderer Anbieter öffnen. Otto hat das zum Beispiel getan, Douglas, Engelhorn, TUI oder Marriott haben entsprechende Pläne geäußert. Braucht es so viele Plattformen überhaupt?
Wie viele Plattformen am Ende tatsächlich am Markt bestehen werden, lässt sich im Moment noch nicht sagen. Manches deutet darauf hin, dass Amazon der Gewinner sein könnte, der auf Basis seiner Dominanz alles einsammelt, was es zu verdienen gibt („The Winner Takes It All“). Andererseits gibt es sowohl aus Sicht von Kunden als auch von Unternehmen durchaus Bedarf für mehrere, spezialisierte Plattformen und Ökosysteme. Klar ist allerdings, dass Unternehmen sich mit diesem Thema auseinandersetzen müssen und dass es in den Vorstand gehört.
Denn klar ist auch: Den eigenen Online-Shop für fremde Anbieter zu öffnen, ist allein noch keine Plattformstrategie. Es braucht zusätzliche Angebote und Services, um das Kundenerlebnis zu verbessern und sich von anderen abzuheben. Otto zum Beispiel hat mit „About You“ nicht einfach nur eine Shopping-Plattform die das Lebensgefühl der jungen, modeaffinen Zielgruppe anspricht. Zudem wollte das Unternehmen ein Framework und ein Toolset bereitstellen, mit dem externe Entwickler eigene Apps bauen können – ähnlich des Apple App-Stores. Seit 2018 wird die Infrastruktur des Unternehmens zudem als API-basierte E-Commerce-Lösung in der Cloud und als Backbone angeboten.
Das ähnelt der Strategie von Amazon. Der E-Commerce-Konzern ist quasi zum Shop für fast alles geworden – auch für die eigene Software und Daten. Wenn sie etwas kaufen wollen, nutzen viele Konsumenten typischerweise nicht Google, sondern schauen gleich bei Amazon nach. Das zieht natürlich Nachfrage von spezialisierten Plattformen für einzelne Bereiche ab. Ich glaube allerdings, dass sich auch in Nischen erfolgreiche Plattformen schaffen lassen, wenn Anbieter sich einfach besser als große Universal-Plattformen auf ihre spezifische Zielgruppe einstellen, sie im richtigen Ton ansprechen, ihr bessere und passendere Angebote machen.
Deutsche Unternehmen wollen bei Plattformen am liebsten mit Firmen aus der eigenen Branche zusammenarbeiten. 50 Prozent nennen sie als Wunschpartner. 40 Prozent setzen auf junge Tech-Unternehmen, nur 16 Prozent auf die großen Tech-Konzerne Google, Amazon, Facebook und Apple. Warum diese Scheu vor den weltweit erfolgreichsten Plattformen?
Die genannten Unternehmen geben teils sehr restriktive Bedingungen für die Teilnahme an ihren Plattformen vor und schöpfen einen erheblichen Teil des Plattform-Umsatzes für sich ab. Zudem haben sie selbst ein Interesse an den Daten der Plattformkunden, um damit ihr eigenes Geschäft weiterentwickeln zu können. Unternehmen fürchten daher, in eine Abhängigkeit von der Plattform zu geraten und zudem die Kontrolle über Daten und die Schnittstelle zum Kunden zu verlieren. Mit 71 Prozent war „Abhängigkeit vom Plattformbetreiber“ das mit Abstand am häufigsten genannte Risiko in unserer Umfrage. Dahinter mag auch die Sorge vor einem komplett diktierten Geschäftsmodell stehen. Plattform Management ist zudem eine andere Disziplin als Handel, Finanzdienstleistungen oder Industrietechnik und damit nicht unbedingt eine Komfortzone für die meisten Unternehmen hierzulande.
Das schon erwähnte Beispiel von Daimler und BMW zeigt, dass sie stattdessen eher der eigenen beziehungsweise der Branchenexpertise von Partnern vertrauen, um neben dem Stammgeschäft moderne Mobilitätsdienstleistungen und -angebote zu entwickeln. Da die großen Automobilhersteller auch im traditionellen Geschäft bereits Plattformen ähneln, liegt es nahe, in diese Ökosysteme künftig auch konzernfremde Kooperationspartner (früher „Zulieferer“) zu integrieren.
Was sind die wichtigsten Punkte, mit denen sich Unternehmen vor dem Start von Plattform- bzw. Ökosystem-Angeboten auseinandersetzen sollten?
Zunächst sollten Unternehmen sich intensiv mit ihren Kunden auseinandersetzen. Nicht die eigenen Produkte stehen im Mittelpunkt, sondern die Bedürfnisse der Kunden. Das alleine bedeutet für viele Unternehmen bereits einen fundamentalen Wandel. Zudem ist es absolut erfolgskritisch, sich als Unternehmen eine eigene Datenstrategie zu geben. Ausnahmslos alle erfolgreichen Plattformunternehmen haben datenbasierte Geschäftsmodelle entwickelt. Auf der Basis von Kundendaten können Unternehmen das eigene Geschäftsmodell im digitalen Zeitalter absichern beziehungsweise kundennah weiterentwickeln.
Dann ist zu prüfen, welche Angebote den Kunden einen Mehrwert bieten könnten, ob es bereits etablierte Plattformen dafür gibt oder ob der Aufbau eines eigenen Angebots sinnvoll ist. Sehr wichtig ist es, offen und kooperationsbereit vorzugehen – auch gegenüber Wettbewerbern. Das hilft, schneller eine kritische Größe zu erreichen. Wenn Sie zum Beispiel eine eigene Plattform aufbauen wollen, steigt deren Attraktivität mit jedem zusätzlichen Anbieter und Nutzer. Unumgänglich ist es in der digitalen Ökonomie natürlich auch, eigene Kompetenzen in der Analyse von Daten und dem Aufbau datengetriebener Geschäftsmodelle aufzubauen.
Vielen Dank!
Martin Stolberg, Division Partner Banking